Esoterik

Was ist Esoterik?
Und warum ĂĽberhaupt befasst man sich damit?

Die Bedeutung des Begriffs Esoterik hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Weit zurückliegend wurde mit Esoterik das Wissen bezeichnet, das nur besonders Vorgebildeten zugänglich ist, so bei den alten Griechen. Auch später noch, zu Beginn der Neuzeit, als die Menschen erst damit begannen, sich von der Bevormundung durch überkommene und teilweise religiös motivierte Denkverbote zu befreien, wurde das Wort noch weitgehend in diesem Sinne verwendet. Danach, fast bis ins 20. Jahrhundert, stand der Terminus ganz allgemein für Geheimlehren, war dabei aber durchaus noch positiv besetzt: Die Grundlagen streng wissenschaftlichen Denkens waren noch nicht wirklich geschaffen, zugleich war die Bastion der Kirche aber schon erschüttert. Heute ist weit überwiegend eine eindeutig negative Rezeption der Bezeichnung vorherrschend. Im weitesten Sinne wird Esoterik mit Okkultismus, Wahrsagerei, Magie, Geistern und anderen sogenannten „höheren Mächten“ in Verbindung gebracht. Auch Astrologie gehört dazu, auch wenn diese als Massenphänomen mittlerweile nicht mehr wirklich „geheim“ ist. Man befasst sich in Teilen der esoterischen Szene z.B. auch mit „höheren Bewusstseinszuständen“, ohne dass klar ist, was genau damit gemeint ist, und auch ohne, dass diesbezüglich objektiv nachvollziehbare Wirkungszusammenhänge dargelegt werden können. Kurzum: Esoterik ist der Gegenentwurf zu einem aufgeklärten wissenschaftlichen Weltbild, das vor allem auf Empirie, Nachprüfbarkeit und Skeptizismus gegründet ist.

Versuch einer Definition

Es gibt sehr viele unterschiedliche Auffassungen und Definitionen des Begriffs Esoterik (aus Sicht der Naturwissenschaft, aus Sicht der Religion, als gesellschaftliches Phänomen, als Prinzip des Denkens, …), die alle hier im Detail zu diskutieren nicht möglich ist, es würde uns auch zu weit von der eigentlichen Frage abbringen. Allen gemeinsam ist – und das ist jetzt meine persönliche Rezeption – die weitgehende Negierung des aufgeklärten wissenschaftlichen Weltbildes. Indessen ist diese Gegenposition zur Aufklärung nicht im absoluten Sinne zu verstehen, vielmehr ist es so, dass mehr oder weniger nach Gutdünken auch nur einzelne Aussagen bejaht, verneint oder in irgend einem freien Sinne modifiziert oder erweitert werden. Dazu kommt, dass Zusammenhänge zwischen beobachtbaren und nicht beobachtbaren Phänomenen konstruiert werden und die Verbindung zum Denken, zu gedanklichen Vorstellungen und zum Bewusstsein oder ganz allgemein zur Geisteswelt hergestellt wird. Um das Wesen von solchermaßen verstandener Esoterik in einem Satz knapp zusammenzufassen: Esoterik ist ein Denk- und Handlungskonzept zu den Phänomenen des Seins unter Ausblendung oder nur partieller Gültigkeit von Wissenschaft und Religion (meine Definition).

Nur zum Verständnis, damit ist nicht gesagt, dass jedes einzelne esoterische Konstrukt per se im wissenschaftlichen Sinne endgültig falsch sein muss. Damit ist aber bemerkt, dass dieses Konstrukt in der gegenwärtigen Beschreibungsform und Erkenntnislage den an eine wissenschaftliche Theorie zu richtenden Ansprüchen nicht genügt, sei es, weil nicht beobachtbare Phänomene eine Rolle spielen, sei es, weil Kausalzusammenhänge unklar sind, oder sei es, weil Wirkungen nicht nachprüfbar sind. Theoretisch denkbar wäre, dass ein gegebenes Denkmodell heute noch als nicht fundiert und demzufolge im erweiterten Sinne als Esoterik qualifiziert werden muss, morgen aber mit Hilfe neuer Erkenntnisse der Wissenschaft stimmig erklärt werden kann. Dies ändert nichts daran, dass das nämliche Modell im Hier und Heute als unwissenschaftlich zu betrachten ist. Nun könnte man einwenden, der Esoteriker nimmt dann ja möglicherweise nur dieses künftige Wissen vorweg. Dieser Einwand verfängt indessen nicht. Evidenz ist ja nachgerade das Wesen von wissenschaftlicher Erkenntnis. Da die Zukunft aber unbestimmt ist, ist das erwähnte Modell eben nur „vielleicht“ wahr (oder auch falsch), es könnte aber auch unentscheidbar sein und muss damit im Hier und Heute konsequenterweise als haltlos betrachtet werden, und zwar mindestens so lange, bis endlich nachprüfbare Fakten ins Spiel gebracht werden.

Abgrenzung zu Intuition und Heuristik

Im vorgetragenen Sinne ist demnach Esoterik nicht zu verwechseln mit Intuition oder Heuristik. Intuition gibt nicht vor, auf der Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis zu stehen. Ausgehend von einer Idee, einem spontanen Einfall, einer überraschenden Querbeziehung erkennt man: Das ist der entscheidende Gedanke, so muss es gehen. Man weiß noch nicht genau wie und warum, aber es hat den Anschein, dass nun alle Puzzleteile vorhanden sind. Im nächsten Schritt kommen dann aber jedenfalls die nachprüfbaren Tatsachen und Zusammenhänge ins Spiel. Sie bilden den Ausgangspunkt für die Ableitung eines theoretischen Ansatzes mit dem möglichen Ziel, ein in sich schlüssiges Erklärungsmodell zu erhalten. Zu Beginn aber ist die zugrundeliegende Intuition, der zündende Gedanke, zunächst nur eine Eventualität: Intuition kann auch trügen. Der Prozess wissenschaftlicher Theoriebildung und Erkenntnis durchläuft typischerweise diesen Phase.

Verwandt damit ist das heuristische Denken. Heuristik sagt ganz offen: Man weiß nicht genau, warum es funktioniert, aber es funktioniert. Erfahrung, Idee und Praxisbezug gehen hier Hand in Hand. Die wissenschaftliche Fundierung besteht vielleicht nur teilweise, vielleicht auch gar nicht. Es gibt aber beobachtbare Tatsachen. Zusammenhänge und Abhängigkeiten können so komplex sein, dass sich ein überschaubares Theoriegebäude mit vertretbarem Aufwand nicht oder noch nicht herstellen lässt. Auch dies nicht selten ein Ausgangspunkt für die Wissenschaft, die sich dann Schritt für Schritt der stimmigen Beschreibung nähert. Natürlich gibt sich der seriöse heuristische Ansatz ganz offen als solcher zu erkennen und behauptet nicht, es handele sich um gesicherte Erkenntnis.

Esoterik und Quantenphysik

ZurĂĽck zur Esoterik: Im Umkreis esoterischen Denkens findet man unter anderem Konzepte wie Geistiges Heilen (Spiritual Healing), Schamanismus, Jenseitskontakte, RĂĽckfĂĽhrung in ein frĂĽheres Leben, Hellsehen, Numerologie, Kaffeesatzlesen, Kartenlesen, Matrix-Quantenenergie, Quantum-Engel-Therapie … . Interessant ist, dass die Anwender solcher „Techniken“ ihr Tun oftmals nicht als Esoterik verstehen, sondern dafĂĽr scheinbar rationale BegrĂĽndungen aus der Wissenschaft ins Feld fĂĽhren, vielfach aus der Physik und nicht selten aus der Quantenphysik, die diesbezĂĽglich offenbar eine besondere Anziehungskraft entfaltet.

Bei der Anwendung von solchermaĂźen begrĂĽndeten Heilkonzepten ist eine Wirkung keineswegs ausgeschlossen. Woran lieg das? Tatsächlich kann man, fast egal mit welcher Art von MaĂźnahme, Handauflegen, Geisterbeschwörung, Abbeten, … gewiss dann und wann einen positiven Effekt hervorrufen. Wie man weiĂź wurde dergleichen von fast allen Naturvölkern schon vor Jahrtausenden praktiziert, und durchaus auch mit Erfolg. Daran ist nichts neu und auch nichts geheim! Das hat natĂĽrlich absolut nichts mit z.B. quantenphysikalischen Effekten zu tun! Vielmehr geht es hier um Selbstheilungskräfte. D.h., es sind die gleichen Mechanismen, die auch beim Placebo-Effekt eine Wirkung hervorrufen können (aber nicht zwangsläufig mĂĽssen). Der Placebo-Effekt ist wissenschaftlich gut untersucht. Auch die Medizin profitiert von ihm. Im Prinzip ist nichts Verwerfliches daran, diesen Effekt zu nutzen. Von einer hohen Warte aus gesehen, könnte man vielleicht sogar sagen, das ganze Drumherum von scheinbar wissenschaftlicher Untermauerung und teilweise bizarren Ritualen sei nötig, um bei den Probanden das nötige Vertrauen (z.B. in den Heiler) und den Glauben an die Wirkung hervorzurufen. So lange es also auf dieser Ebene abläuft kann man nur sagen: Jedem das Seine.

Einer der wichtigsten Begriffe für Esoteriker ist der Terminus „Energie“. Bei diesem Wort hat ein Jeder sicher andere Assoziationen. Es ist einerseits ein abstrakter Begriff, andererseits kann man die Wirkung von physikalischer Energie sehr unmittelbar erfahren. Energie wird in der Humanmedizin vielfach eingesetzt. Man kann hier Röntgenstrahlen, Ultraschall, Infrarot oder ganz normales Sonnenlicht und viele weitere Spielarten anführen, auch hochkomplexe Beeinflussungen mittels MRT (Magnetismus) gehören dazu. Wer wollte die Wirkung physikalischer Einflüsse auf Menschen in Frage stellen? Die Wirkung von Akupressur z. B., beruht ebenfalls auf dem Einsatz physikalischer, nämlich mechanischer Energie. Die Zufuhr physikalischer Energie kann dem Menschen angenehm sein (die „Wärme“ des Kaminofens im kalten Winter) oder unangenehm (die „Hitze“ der Herdplatte führt zu Verbrennungen). – Eigentlich ist das banal! Jedes Kind sammelt entsprechende Erfahrungen in den ersten Lebensjahren. Für Esoteriker stellt sich die Sache anders, nämlich viel komplexer dar. Für sie ist Energie etwas Geheimnisvolles, sie durchdringt das Universum, sie ist in uns und um uns herum. Ihre Auffassung von Energie ist sehr viel weiter gefasst und schließt die abstrakte uns innewohnende „Lebensenergie“ gleichrangig auf einer Stufe mit ein.

Esoteriker und solche, die das was sie tun für die denkbar geheimnisvollste, vielleicht auch fortschrittlichste, aber eben noch nicht allgemein anerkannte Anwendung neuester Erkenntnisse der Wissenschaft, z.B. der Quantenphysik halten, beginnen also, scheinbar arglos, mit dem oben zitierten Energiebegriff, nennen Beispiele aus der Physik, die jedermann einleuchten und belegen, dass physikalische Energie ja ganz offensichtlich auf Menschen eine Wirkung hat. Sie tun es natürlich so, dass die Banalität der Rede nicht auffällt. Bei naturwissenschaftlich Ungebildeten, und deren gibt es viele, auch unter sogenannten Bildungsbürgern, ist das kein Problem. Niemand, der bei Verstand ist wird Ihnen widersprechen. Alle sind nun also der Meinung, physikalische Energie wirke auf Menschen (was ja auch zutrifft). Nun wird im nächsten Schritt das Attribut „physikalisch“ beiseitegelassen. Vermutlich geht es nicht ganz so platt. Man muss den Zusatz „physikalisch“ auch gar nicht konkret aussprechen, es reicht aus, den indirekten Zusammenhang zur Seriosität der Physik herzustellen. Wir reden also nur noch von „Energie“. Nach der Vorrede hat jedermann zum Begriff „Energie“ sofort die Assoziation eines objektiv vorhandenen physikalischen Einflusses im Kopf. Darüber muss man gar nicht mehr diskutieren. Physik ist wahr! Das ist reine Erfahrungswissenschaft! Unwiderlegbar!

Wir reden also von Energie – nur ist es jetzt keine physikalische Energie mehr (was verschwiegen wird). Dialektisch gesehen wird an dieser Stelle das Wort „Energie“ quasi als Homonym verwendet: Es schreibt sich wie die (physikalische) Energie die jeder kennt, es hört sich genauso an, es ist aber etwas ganz anderes. Etwa so wie der Strauß „als Blumengebinde“ und der Strauß „als Vogel“ zwei grundverschiedene Dinge sind. Die Wissenschaftlichkeit der physikalischen Energie überträgt sich dergestalt auf sein „energetisches Homonym“ und entwickelt dort ein relatives Eigenleben. D.h., Eigenleben ist eigentlich keine wirklich zutreffende Qualifizierung, man muss wohl eher von Doppelleben sprechen. Doppelleben deshalb, weil auf die methodische Kritik von außen hin, der physikalische Charakter, dessen, womit man es zu tun hat, ganz klar betont wird, um damit die Objektivität und Wissenschaftlichkeit der „Energie“ herauszustellen, auch wenn dieser Aspekt faktisch und nüchtern betrachtet keine Rolle spielt. Und nun kommt die Quantenphysik ins Spiel: Die Analogie zur Quantentheorie, namentlich zum Welle-Teilchen-Dualismus, liegt auf der Hand. Bekanntlich bestimmt dort letzten Endes die Art des Experiments, ob der Teilchen- oder der Wellencharakter beobachtet wird. So ähnlich auch in diesen Gefilden: Kritischen Geistern begegnet man mit pseudowissenschaftlichen Argumenten und gibt sich betont seriös, das ist der konkrete Teilchencharakter. In der praktischen Anwendung der Methoden findet man hingegen die bereits oben genannten Spiritual Healing, Schamanismus, Jenseitiges, Kaffeesatzlesen, Kartenlesen, Numerologie, Hellsehen, Quantum Engeltherapie, Matrix-Quantenenergie, … und was dergleichen mehr ist. Das ist gewissermaßen der nicht fassbare Wellencharakter.

Ein weiterer Ansatzpunkt für die Bezüge zur Quantenphysik liegt in der oft zitierten Unschärferelation. Wenn nun esoterische Therapeuten in ihrer Behandlung von Menschen z.B. beim Handauflegen oder bei Anwendung der sogenannten Zwei-Punkt-Technik in der Folge auf Ungenauigkeiten, Unbestimmtheit, nicht vorhersehbares Verhalten usw. ihres Probanden treffen, dann ist für sie die quantenphysikalische Grundlage ihres Tuns bereits evident. Das Rezept ist einfach: Überall da, wo man im Dunkeln tappt, wo es Unschärfe gibt, muss es wohl im Kern um Quantenphysik gehen, weil ja auch dort die Dinge sich mal so, mal anders präsentieren, weil auch dort im Detail Unbestimmtheit herrscht, und weil auch dort scheinbar völlig abwegige Ereignisse denkbar sind, wie wir sie aus unserer Erfahrung im Makrokosmos nicht kennen. Beispiele für solche hochattraktiven Phänomene für Esoteriker sind z.B. die Quantenverschränkung (zwei räumlich voneinander getrennte Quanten nehmen einen komplementären Quantenstatus ein und verändern diesen synchron ohne expliziten Austausch von Photonen), Quantenfluktuation (Quanten entstehen aus dem Nichts und verschwinden wieder), Tunneleffekt (Quanten passieren bzw. unterwandern eine Potentialschwelle [ein Hindernis], die sie – makrokosmisch gesehen – nicht überwinden können).

Natürlich gibt es einen essentiellen Unterschied zur Quantenphysik. Wellen- und Teilchenmodell bilden in selbiger jeweils schlüssige Beschreibungsrahmen für die beobachtete Wirklichkeit. Hier muss man nicht an einer Stelle mit besonderen Eigenschaften aus dem Teilchenmodell Lücken im Wellenmodell schließen, oder umgekehrt. Der physikalisch-spirituelle Dualismus ist von ganz anderer Art. Das physikalische und das spirituelle Modell bedingen einander. Ausgehend von der wissenschaftlich objektiven Welterklärung der Physik wird physikalische Energie kurzerhand zur geistigen Energie befördert. Auf der spirituellen Ebene wird diese dann mittels nicht-physikalischer Methoden interpretiert, beeinflusst, genutzt, umgewandelt und zurück gespiegelt auf die physikalische Ebene. Nun gibt es aber kein wissenschaftliches Modell zur spirituellen Energie, deshalb muss das physikalische Modell als Beleg für die Richtigkeit und Seriosität des Ganzen herhalten. Dort hingegen, wo das physikalische Modell an seine Grenzen stößt, argumentiert man mit den höher gestellten geistigen Energien oder beruft sich auf bisher von der Wissenschaft „noch nicht richtig verstandene“ spezielle quantenphysikalische Phänomene. Kurzum, jeder Angriff auf die eine Domäne wird mit einer Entgegnung aus der anderen Sphäre gekontert oder dem Unwissen der seriösen Wissenschaft zur Last gelegt. Unbedarfte Zeitgenossen lassen sich davon sicher blenden.

Typologie

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Anhänger esoterischen Denkens in vier charakteristische Urformen zu trennen und entsprechend zu klassifizieren.

Typ 1: Wissenschaftsromantiker oder echte Esoteriker in der überkommenen Bedeutung des Wortes. Ihnen ist die reale Wissenschaft zu nüchtern. Scheinbar alles kalt, hell, grell erleuchtet. Kein Platz für Geheimnisse. Die Sonnenfinsternis findet eine nüchterne Erklärung. Der Stein fällt zu Boden, weil es die Gravitation gibt. Das Wasser fließt bergab und kocht bei 100°. Und wenn es schon bei 80° kocht, dann kann man das rational mit dem geringeren Luftdruck in größerer Höhe erklären. Die Lichtgeschwindigkeit ist konstant. Zeitreisen sind nicht möglich. Ort und Impuls eines Teilchens lassen sich nicht mit beliebiger Genauigkeit bestimmen. Die Entropie wächst unaufhörlich. … Kein Platz für Geheimnisse? Aber natürlich! Man kann trefflich über die Vollständigkeit wissenschaftlicher Weltdeutung streiten. Hier kommt nun der Wissenschaftsromantiker und Esoteriker ins Spiel. Er „überwindet die wissenschaftliche Skepsis“, er erweitert die Grenzen der Erfahrung und ergänzt die sprachlichen Mittel um den Faktor Geist oder das Bewusstsein. Der Geist wird gleichsam zum Alles-Erklärer, zum Schließer aller gefühlten Lücken, zur letzten Antwort auf alle Fragen. Wo sprachliche Ausdrucksfähigkeit angesichts der Komplexität der Zusammenhänge ans Ende kommt, wo mathematische Modelle in ihrer Abstraktheit für Laien abweisend bleiben kommt der Geist hinzu und macht aus dem objektiv Begrenzten und im höchsten Anspruch noch Unvollständigen ein gefühlt Verstehbares, ein abgeschlossenes Ganzes. … Eigentlich eine wohlmeinende Spezies, der indessen vor lauter Eins-Sein der Blick für die erkenntnisreiche Dienlichkeit des Unterschieds abhandengekommen ist.

Typ 2: Kreative Wissenschaftsinterpreten. Sie nutzen die Aussagen der Wissenschaft zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele. Es geht Ihnen nicht um Erkenntnis, sondern um Schau und Machtausübung. Die Sprache der Wissenschaft ist ihnen letzten Endes unverständlich. Sie nehmen die Modelle der Wissenschaft allzu wörtlich und interpretieren sie zugleich im Hinblick auf subjektive eigene und fremde Erfahrungen aus gänzlich anderen Sphären (für die die Modelle überhaupt nicht taugen). Ihre eigene Interpretation verkaufen sie als die einzig wahre, sie manipulieren ihre Umwelt und nutzen die Ängste und Nöte argloser aber naiver Zeitgenossen zur Verfolgung ihrer mehr oder weniger eigennützigen Ziele.

Typ 3: Ignorante Wissenschaftsverweigerer. Alles werfen sie durcheinander, alles halten sie für möglich, und das genaue Gegenteil davon. Auch sie verstehen die Sprache der Wissenschaft nicht wirklich und wollen das offenbar auch nicht. Mutmaßung ist für sie die Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln. Eigene, zufällig zustande gekommene Erfahrung nehmen sie für allgemein gültig. Einmalereignisse erklären sie zu Regel. Wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren sie konsequent. Der höchste Maßstab ist ihnen die eigene beschränkte Sicht auf die Welt. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose … Im Effekt ähnlich wie Typ 2, aber weniger gefährlich, weil geistloser.

Typ 4: Naive Anwender. Sind bar jeder kritischen Reflexion und glauben alles, was Ihr Guru Ihnen erzählt. Nicht wirklich selten.

ResĂĽmee: Esoterik und Illusion

In der Realität trifft man Mischformen aus 1 bis 4 vermutlich am häufigsten. Die Übertragung von Erklärungsmodellen aus der Quantenphysik, namentlich des Welle-Teilchen-Dualismus, der Unbestimmtheitsrelation oder der Quantenverschränkung auf makroskopische Anwendungen (z.B. 2-Punkt-Methode) ist für mich ein Beispiel für Denkmuster von Typ 1 und 2. Eigentlich geht es nur um Handauflegen, um Vertrauen, um Zuwendung, um den Glauben an die Kraft des Heilers, um den Placebo-Effekt. Typ 1 und 2 machen daraus ein wissenschaftlich verbrämtes Gewese, vielleicht mit mehr oder weniger guten Absichten, aber jedenfalls ohne echte wissenschaftliche Fundierung und im Ergebnis unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Dies gilt unbeschadet der begründeten Vermutung, dass diese „Vortäuschung falscher Tatsachen“ wahrscheinlich sogar höchst zweckdienlich im Sinne des angestrebten Ziels ist. Und es gilt auch unbeschadet dessen, dass der Heiler womöglich nur die besten Absichten damit verbindet. – Das alles hat mit Quantenphysik in etwa so viel zu tun, wie die Herstellung von Schweizer Käse mit dem Bethe-Weizsäcker-Zyklus im Innern der Sonne. Es ist nicht mehr als Hokuspokus, oder, vornehmer ausgedrückt, eine aufwendig inszenierte Illusion. Das Bestehen oberflächlicher Analogien (es gibt Unschärfe, es gibt zwei Dinge, zwischen denen man nicht unterscheiden kann, …) ist kein hinreichender Grund für die schlüssige Ableitung wesenhafter Beziehungen in der Tiefe. So simpel gestrickt ist die Wirklichkeit nicht. Es ist geradewegs so, als wollte man aus der auf den ersten Blick bestehenden Ähnlichkeit der Formstruktur des Innern einer Walnuss mit menschlichen Gehirnwindungen darauf schließen, Nüsse könnten denken. Rote Farbe ist rote Farbe nur und hat mit dem Lebenssaft Blut sonst nichts gemein. Genauso verhält es sich z.B. mit „Matrix-Quantenenergie“ und Quantenphysik.

Illusionen sind nicht notwendigerweise von Übel. Wir alle lassen uns gerne von den gekonnt inszenierten Kunststücken professioneller Magier aus dem Alltag entführen. Sie bringen uns zum Erstaunen, sie verzaubern uns, und ja, sie täuschen uns sogar. Sie täuschen uns über die wahren Abläufe ihres Tuns, sie führen uns mit ihren raffinierten Tricks hinters Licht. Eines aber kann man diesen Könnern ihres Fachs indes nicht vorwerfen: Sie lassen uns nicht darüber im Unklaren, dass sie Zauberkünstler sind. Sie geben nicht ernsthaft vor, die Naturgesetze außer Kraft setzen zu können. Zu jedem Zeitpunkt ist klar: Es handelt sich um eine Illusion. Sie wissen das, wir wissen das, und sie wissen, dass wir es wissen. Eine ehrliche Beziehung auf Augenhöhe. In der Esoterikszene bin ich mir da nicht so sicher. Ich habe den Eindruck, dort wird Illusion als Wahrheit ausgegeben.

Kontrapunkt: Was ist Wissenschaft?

Zurück zur Wissenschaft: Was eigentlich ist wissenschaftliche Weltdeutung? Zweifellos kann die Wissenschaft eigentlich nur wenig erklären, zumindest nicht im tiefsten Ur-Sinne dieses Verbs. Vollständigen und klaren Aufschluss über das Wesen der Dinge zu erwarten, hieße das Wesen von Wissenschaft zu missverstehen und unsere Möglichkeiten zu überschätzen. Die praktische Bedeutung von Klärung ist Zurückführen des Neuen, des noch nicht Verstandenen auf das Andere, auf das bereits Bekannte. Wissenschaft erfindet, konstruiert Modelle der Wirklichkeit, die das Beobachtete konsistent beschreiben. Die Modelle sind Sprachgebilde und mathematische Konstrukte, die wir grundsätzlich verstehen, weil wir die Regeln des Gebrauchs dieser Hilfsmittel selbst festgelegt haben und ihre konkrete Ausdeutung bei Bedarf den spezifischen Anforderungen anpassen können. Die modellhaften Bilder sind in diesem Sinne gewissermaßen Transformationen der Wirklichkeit, sie sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind vor allem nicht mit der Wirklichkeit identisch. Deswegen sind sie auch nicht die Wahrheit über die Realität, zumindest können wir dieses Prädikat im logischen Sinne nicht beweisen. Es handelt sich eher um mehr oder weniger gute Zerrbilder der Wirklichkeit. Selbst die Güte dieser Bilder können wir nur annähernd abschätzen, das einzige Mittel dafür ist die Erfahrung. Wir können uns noch nicht einmal sicher sein, dass eine objektive Realität überhaupt existiert. Wenn wir über das Wirkliche reden, so können wir das nur auf dem Umwege des Bildes, welches uns das Modell liefert. Wissenschaft ist der Versuch, dieses Modell zu objektivieren, es von den subjektiven Beliebigkeiten zu befreien. Die Methoden dafür heißen Empirie und Skeptizismus. Die Gültigkeit und Beschreibungshoheit der Modelle ist limitiert durch die Grenzen unserer Erfahrung und die letzten Endes beschränkten Mittel unserer Ausdrucksfähigkeit.

Dieses Verständnis von Wissenschaft wird manchem zu abstrakt und nüchtern erscheinen. Das muss es nicht! Tatsächlich ist das Gebäude der Wissenschaft, vornehmlich von Physik und Mathematik trotz aller Unvollkommenheit im Ganzen doch in vielen Teilen voller Harmonie in des Wortes tiefster Bedeutung. Gewiss, es ist unvollkommen, aber doch bereits von anmutiger Schönheit. Es ist die Leistung der hervorragendsten Köpfe aller Zeiten. Wie viel an Erkenntnis bleibt einem verschlossen, wenn man diese Schönheit nicht zu schätzen vermag. Nach meinem Weltverständnis gibt es keinen wirklich vernünftigen Grund, sich mit Esoterik (im oben definierten Sinne) zu beschäftigen. Esoterik ist Sand in den Augen. Vielleicht auch eine Art Ersatzreligion. Der Blick auf die Welt wird nicht erhellt sondern verstellt. Aus meiner Sicht gibt es keinen Bedarf an „Geheimwissenschaften“ aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie Scheinantworten auf die falschen Fragen geben. Der Umgang mit den offenen Fragen ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Wissenschaft und Esoterik. Esoterik liefert keine Fakten. Esoterik bedient Illusionen.

Niemand behauptet, unser Weltbild sei bereits geschlossen und fĂĽr neue Erkenntnisse sei kein Platz. NatĂĽrlich gibt es noch viele Geheimnisse die ihrer EntschlĂĽsselung harren. Tatsächlich sind wir auch mit Hilfe strengster  wissenschaftlicher Methoden kaum hellsichtiger als MaulwĂĽrfe in ihren ErdhĂĽgeln. Und trotzdem ist es lohnender, nach neuen Einsichten mĂĽhevoll zu graben, als sich Erkenntnis vorzugaukeln, wo keine ist.

Außerhalb der axiomatischen Mathematik gibt es für uns kein endgültiges Wissen, wir werden daher immer Suchende bleiben. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten des Irrtums und nur wenige Wege zur Wahrheit. Und weil das so ist, kommt der kritischen Methode, dem Skeptizismus, diese überragende, diese unverzichtbare Bedeutung zu.

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